Dienstag, 30. Januar 2018

Ernährungsunsicherheit – der stumme, lobbylose Hunger in Deutschland

Deutlich mehr als vier Prozent der deutschen Bevölkerung – schätzen Forscher der Uni Hohenheim in ihrer aktuellen Studie – haben keinen ausreichenden Zugang zu gesunden Lebensmitteln. Speziell die Menschen, die auf die "Tafel" angewiesen sind, fallen darunter. In den reichen westlichen Industrienationen sieht es nicht besser aus.

Für viele europäische Länder gab es bislang keine Studien über die Häufigkeit von Ernährungsunsicherheit bei Menschen, die auf Nahrungsmittel von Nahrungsmittelbanken, in Deutschland "Tafel" genannte ehhrenamtlich von einem deutschlandweiten Verein organisierten Nahrungsmittel-Abgabestellen, angewiesen sind. Ein Haushalt gilt als „ernährungsgesichert“ wenn seine Mitglieder nicht hungern oder Unterernährung befürchten müssen.


 

 



Prof. Dr. Nanette Stroebele-Benschop
Ziel einer aktuellen Studie von Forschern aus Hohenheim war es deshalb, die Prävalenz und die damit verbundenen Bevölkerungsmerkmale dieser speziellen Gruppe von benachteiligten Menschen in Deutschland zu untersuchen. Der Ernährungsunsicherheitsstatus wurde 2015 in Deutschland unter 1033 erwachsenen Konsumenten von Lebensmittelbanken mit einem Durchschnittsalter von 53 Jahren (57% weiblich, 43% männlich) anhand der Ernährungsunsicherheitsskala (FIES) bewertet.

Etwa die Hälfte der Teilnehmer (55,8%) waren alleinstehend ohne Kinder und in Deutschland geboren. Über 37% hatten einen selbst berichteten BMI von 30 oder darüber und 37,4% gaben an zu rauchen.

Mehr als 70% der Nutzer von Lebensmittelbanken können als lebensmittelungesichert eingestuft werden. Von diesen wurden etwa 35% als nur geringfügig, fast 30% als mäßig und über 7% als stark nahrungsmittelungesichert eingestuft. Diese Ernährungsunsicherheit erwies sich signifikant abhängig vom Geschlecht, Alter, dem subjektiven Gesundheitszustand, vom Rauchen und der Nutzungsdauer der Lebensmittelbank sowie von Schulbildung und Familienstand.

Unter diesen sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist demnach die Ernährungsunsicherheit weit verbreitet, und die Bemühungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit sollten sich auf diese gefährdete Bevölkerung konzentrieren.

Ernährungsunsicherheit wird als "begrenzte oder unsichere Verfügbarkeit von ernährungsphysiologisch adäquaten und sicheren Lebensmitteln oder als eingeschränkte oder unsichere Fähigkeit, akzeptable Lebensmittel auf sozial akzeptable Weise zu erwerben" beschrieben. Der Anstieg der Ernährungsunsicherheit ist global und betrifft auch Länder mit hohem Einkommen wie Großbritannien, Kanada, die USA oder Deutschland.

Die Forschung hat gezeigt, dass der Weg zu Ernährungsunsicherheit oft mit der Angst beginnt, nicht genug zum Essen zu haben, gefolgt von Ernährungsumstellungen, um mit der begrenzten Nahrungszufuhr länger auszukommen und so die Nahrungsaufnahme zu reduzieren.

So unterscheiden sich Individuen, die an Ernährungsunsicherheit leiden, nicht notwendigerweise in ihrer Energieaufnahme von ernährungsgesicherten Personen, aber die Forschung zeigt, dass ihr Verzehr von Obst, Gemüse und Fisch geringer ist. Im Allgemeinen scheint Ernährungsunsicherheit mit einer schlechten Qualität der Ernährung zu korrelieren, was teilweise durch niedrigere tägliche Geldausgaben für Nahrung erklärt werden kann. Ernährungsungesicherte Personen scheinen auch ein höheres Risiko für eine schlechte Gesundheit zu haben, einschließlich höherer Adipositasraten bei Frauen, Diabetes oder psychische Störungen als Personen mit Nahrungsmittelsicherheit. Insgesamt ist die Ernährungsunsicherheit häufiger bei Haushalten mit niedrigem Einkommen anzutreffen und Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status.

Laut einer neuen Vergleichsstudie von 149 Ländern können 78,2% der Menschen in Nordamerika als ernährungsgesichert beschrieben werden, während 4,9% schwer unter Nahrungsmittelunsicherheit leiden. In Europa gelten 74,3% der Menschen als ernährungsgesichert und 3,5% als stark ernährungsgesichert (6,3% mit mittelschwerem und 16,0% mit leichter Ernährungsunsicherheit. Der jüngste Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen ( FAO), die die Prävalenz von FI-Daten für viele verschiedene Länder mit national repräsentativen Populationsproben veröffentlicht, schätzt, dass 4,3% der Bevölkerung in Deutschland mäßig bis stark ernährungsungesichert sind. Die Autoren der aktuellen Studie halten allerdings die Aussagekraft dieses Berichtes aufgrund geringer Fallstudien für zu gering.

Im Vereinigten Königreich wurden im Geschäftsjahr 2016-2017 an über 1,18 Millionen Menschen dreitägige Notnahrungsmittelrationen ausgeteilt. In Deutschland hat die Zahl der Lebensmittelbanken in den letzten 15 Jahren stark zugenommen, und es wird geschätzt, dass derzeit 1,5 Millionen Menschen von ihrer Nahrungsmittelverteilung profitieren.

Da aber immerhin 6 Millionen Menschen in Deutschland Sozialleistungen erhalten (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017) und mindestens 15 Millionen Menschen das Recht hätten, die Angebote einer Lebensmittelbank in Anspruch zu nehmen (Nationalverband der Deutschen Tafeln, 2016) dürfte der Anteil der Menschen mit Ernährungsunsicherheit in der deutschen Bevölkerung höher als 4% sein.

Hier geht es zur Originalveröffentlichung

 

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