Dienstag, 22. August 2017

Wir werden zu sozialverträglichen Personen gestreichelt

Der Mensch braucht seine Streicheleinheiten – und wird in seinem Leben geradezu süchtig danach. Zumindest könnte man eine Serie von Studien zu diesem Thema so interpretieren. Fakt ist: Die sonst so knausrige Evolution hat für dieses Streicheln unserem Körper ein zusätzliches "Nervenkostüm" angelegt, das nur auf solches Streicheln reagiert und ein Wohlgefühl in uns auslöst.

Berührungen unter Menschen spielen eine bedeutende Rolle beim sozialen Kontakt. Speziell Kinder suchen diese Art von Stimulation und profitieren davon, was ihre emotionale Entwicklung und die Entwicklung ihres sozialen Verhaltens angeht. Was stattdessen passiert, wenn solche Berührungen Mangelware sind, lässt sich in Waisenhäusern besichtigen – speziell in ausländischen natürlich: Nicht nur Verhalten und Emotionen entwickeln sich mangelhaft, nein auch der Körper dieser vernachlässigten Kinder.

Das zusätzliche Nervenkostüm ist aus "nackten" sogenannten C-taktile Nervenfasern, die nicht durch Myelinscheiden isoliert sind wie andere Nervenzellen.

Leichtes langsames Streichen über die Körperoberfläche bringt diese C-taktilen Nervenfasern zum Feuern, und unser Hirn verbreitet schließlich in uns ein Wohlgefühl. Besonders dann, und bei den meisten Menschen ausschließlich dann, wenn dieses langsame Streicheln mit einer Geschwindigkeit um die 3 cm/s erfolgt. Geschwindigkeiten kleiner 0,3 cm/s und solche größer 30 cm/s sind dagegen deutlich weniger "beeindruckend".

Dass dieses Nervenkostüm wohl ausschließlich für das interpersonelle Streicheln erfunden wurde, lässt sich zusätzlich aus der Tatsache ableiten, dass das Streichelobjekt etwa Körpertemperatur haben muss, um seine volle Wirkung zu entfalten. Zu dem sich ausbreitenden Wohlgefühl gesellt sich eine deutliche Abnahme der Herzfrequenz.

Dass das Streichelobjekt aber nicht zwangsläufig eine menschliche Hand sein muss, machen sich die Forscher in ihren Studien zunutze, in denen sie weiche angewärmte Pinsel einsetzen, die mit Hilfe einer Maschine mit einstellbarem Druck und einstellbarer Geschwindigkeit über die Haut des Probanden streichen, meist über den Unterarm. Wobei dem Probanden diese Versuchsanordnung hinter einer Abschirmwand verborgen bleibt.

In weniger aufwändigen Studien wird der Effekt solcher Streichelversuche einfach abgefragt – kindgerecht bei entsprechendem Alter der Versuchspersonen: Unter fünf Smileys mit unterschiedlich fröhlichen Gesichtern müssen Kinder jenes Smiley auswählen, dass die Empfindung beim eben gespürten Streicheln am besten repräsentiert.

In aufwändigeren Studien wurde und wird der Effekt des Streichelns direkt mittels der Hirnströme gemessen. Dabei leuchten speziell jene Teile der Hirnrinde auf, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig sind.

In allen untersuchten Altersgruppen konnte das höchste Wohlgefühl bei den prognostizierten 3 cm/s registriert werden. Allerdings ist der Anteil jener Probanden, der Streicheln mit der "falschen" Geschwindigkeit genauso gut findet, bei den jüngsten Altersgruppen am höchsten (frühe Kindheit ~40%, späte Kindheit ~20%). Bei Erwachsenen und besonders bei Alten ist er dagegen äußerst gering.

Ob dieses Ergebnis für die anfängliche Unfähigkeit von Kindern spricht, Gefühle gut einordnen zu können, oder ob dieses von den Eltern instinktiv richtig ausgeführte "richtige" Streicheln durch Erfahrung "erlernt" werden muss, bleibt dabei wohl unklar. Oder ob die Evolution mit dieser Unschärfe auch jene Kinder mit Wohlgefühl belohnen will, deren Eltern die falsche Streichel-Geschwindigkeit wählen?

Fakt ist, dass erwachsene Probanden ihr Wohlgefühl – anders als die Kinder mit ihren fünf Smileys – auf einer deutlich differenzierteren Zahlenskala einordnen müssen, was die Vergleichbarkeit der Ergebnisse der Altersgruppen erschwert.

Dass ein Mangel an Streicheleinheiten zu einem Defizit beim sozialen Verhalten führen kann, ja zwangsläufig führen muss, kann von Autisten abgeleitet werden. Dort fehlt offensichtlich der durch C-taktile Nervenfasern normalerweise aktivierte Stimulus, und die emotionalen Zentren in der Hirnrinde bleiben dunkel.

Dr. Ilona Croy
Besonders spannend an der aktuellen Studie von Forschern aus Deutschland (Dresden) und Schweden ist die Würdigung der Ergebnisse jener Probanden, die offensichtlich auf die für die Mehrheit der Versuchspersonen eher "falschen" Streicheleinheiten mit Wohlbefinden reagieren.

Die Forscher fanden einen Anteil solcher Einzelpersonen in allen Altersgruppen. Es können dabei mehrere Faktoren zur Wirkung kommen, wie persönliche Präferenzen, Erwartungen und Erfahrungen. Solche Daten müssen deshalb grundsätzlich aufgrund von individuellen Unterschieden uneinheitlich sein.

Die erhöhte Annehmlichkeit für die Haut, die mit einer Geschwindigkeit von etwa 3 cm/s gestreichelt wird, ist demnach nur ein allgemeiner Befund, der nur in Gruppendaten erscheint. Einzelpersonen hingegen haben ihre eigenen Vorlieben. Daher können die Befunde eines Patienten nicht zur Diagnose von Störungen verwendet werden, mit anderen Worten lässt sich aus der Reaktion auf richtiges und falsches Streicheln noch nicht auf einen Autisten oder ein verwahrlostes Kind schließen.

Hier geht es zur Originalveröffentlichung

 

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